Chronik von Raoul Horn
Das Eurothalia-Festival begann mit der Vorstellung Der Berg, die von Agrupación Señor Serrano aufgeführt wurde. Auf der Bühne: vier Schauspieler, Kameras, detaillierte Modelle des Himalaya-Gebirges, vier Arbeitstische mit ständig wechselnden Gegenständen. Die Vorstellung selbst ist eine Eisenstein-Montage, eine Stunde und zehn Minuten historischer Fragmente, kurzer Filmsequenzen, Fake-News, alle in einem schnellen Tempo nebeneinandergestellt. Jedes der präsentierten Bilder führt seine Erzählung zu Ende und hinterlässt keine Lücken. Die Vorstellungszeit ist aufs Wesentliche beschränkt, mit Botschaften beladen, die wir konkret nennen können. Die Auflistung dieser Botschaften hat einen unmittelbaren Einfluss auf den Geist, der sich mit der Analyse der mehrfachen Szenen befasst.
Worum ging es? Um die Wahrheit ist zu wenig gesagt. Denn diese ist, wie aus der Vorstellung ersichtlich, verwickelt, mit Verzweigungen an jedem Ende einer Idee, überhaupt nicht einfach oder rein. Wir neigen dazu, Begriffe durch Adjektive zu charakterisieren, und diese tun nichts anderes, als das Wesentliche zu verwischen, oberflächlich zu „verschönern“. Wenn etwas passiert, ohne dass Zeugen es dokumentieren, bedeutet das, dass es nicht passiert ist? 230 Meter vom Gipfel des Everest entfernt wird der Aufstieg von George Mallory und Andrew Irvine nonchalant von Nebel umhüllt. Als hätte die Natur einen Vorhang vor die „Wahrheit“ gezogen, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu verändern. Darüber hinaus wird uns in der Vorstellung erzählt, dass ein Team von Alpinisten 1999 Mallorys Leiche an der Nordwand des Everest entdeckte, aber ohne die Kamera, die die „Wahrheit“ bestätigen sollte, und ohne das Porträt seiner Frau Ruth, der Mallory versprochen hatte, ihr Foto in den Schnee auf dem Berggipfel zu platzieren. Zwei Wahrheiten? Zwei Perspektiven?
Eine der Gestalten ist Wladimir Putin. Die Tonalität des Namens charakterisiert ihn direkt und prägnant. Putin ist eine Maske, ein Emoticon, er hat ein kaltes und neutrales Gesicht, ist kahl und schwebt auf einem digitalisierten Hintergrund. Ich musste sofort an F.W. Murnaus Nosferatu denken, der diesmal kein Blut, sondern smokva bevorzugt. Die Schauspieler tauschen diese „Maske“ der Reihe nach aus. Eine gleichzeitig spielerische und politische Mimesis. Wir sehen Orson Welles in verschiedenen zeitlichen Posen; er ist besorgt, dann gleichgültig in Bezug auf die Radioadaption von H.G. Welles’ Roman Der Krieg der Welten und die daraus resultierenden Reaktionen.
Die Montage, ob verbal oder bildlich, manipuliert. Deshalb wurde es auch theoretisiert und dann auf dem Film in Betrieb genommen, als eine subtile Form der Manipulation. Diese Russen... Der Schauspieler ist nicht mehr derjenige, der im wahrsten Sinne des Wortes interpretiert, sondern ein reinrassiger Dokumentarfilmer, eine Art Historiker. Aber wir sollen nicht die Kamera in seinen Händen übersehen. Während einer der Schauspieler die Szene gefesselt filmt, ist ein anderer neben ihm, der die kleinen regungslosen Figuren, die Gegenstände, arrangiert, die Stürme und Schneefall verursachen, das heißt, anders Regie führen und interpretieren und dadurch eine Neudokumentation machen.
Der Berg bietet keine schauspielerische Virtuosität (im traditionellen Sinne), Oscar- oder Tony Awards-Grimassen, aber die Vorstellung verleitet zum Nachdenken. Es ist gut, vor allem in dieser Zeit, nachdenklich zu werden.
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„Theaterchronik @ Eurothalia“ ist ein von Daniela Șilindean gemeinsam mit dem Team des Deutschen Staatstheaters Temeswar konzipiertes Programm im Rahmen des Europäischen Theaterfestivals Eurothalia 2023, das vom 20. bis 30. September 2023 stattgefunden hat und durch das Nationale Kulturprogramm Temeswar - Kulturhauptstadt Europas 2023 gefördert wurde.