Eurothalia

20–30.09.2023 - Wir sehen uns im Herbst!

Blog

Bären, Dystopie, Ritual

Chronik von Raoul Horn

Wim Vandekeybus ritualisiert. Dies ist auch ein großartiges Merkmal des Tanzes. Aber in diesem Fall ist es zu einfach, es als Tanzen zu bezeichnen. Vandekeybus verhält sich eher wie ein Regisseur als wie ein Choreograf. Seine Performances sind Narrative des Körpers. Und Spuren kann als Gegensatz zwischen Körper und Geist gesehen werden, die von ursprünglichen, animalischen Instinkten des Menschen gekreuzt werden. Wenn der Mensch das Tierische in sich aufhebt, streicht er sich selbst und fällt seinen eigenen Wald, das Versteck, aus dem er gekommen ist, um sich an das Schlechtwetter der Zeit anzupassen. 

Die Spuren sind die einer dystopischen Gemeinschaft. Jeder Darsteller/Tänzer in der Aufführung hat eine ausgezeichnet abgegrenzte Körperlichkeit. Selbst wenn sie gleich tanzen, behält jeder seine eigenen Gene, das subjektive Zucken. Wie die Bärentatze ihre Spuren auf dem Waldboden hinterlässt, so stellt die asphaltierte Straße einen flachen Weg der Kontinuität zu einem Wo dar, das immer wieder zur wilden Geometrie der Bühne zurückführt. Die flotten Schauspieltänzer, deren Arme weiß bemalt sind, bleiben fast in der Luft hängen, und die Hirsche, die sie in den Kampf einbeziehen, paaren sich, sind auch in ihrem ganzen Schwung zerbrechlich – vorsichtig, mit der Straße gewöhnt, halten sie an, wenn Reifen mit summenden Motoren vorbeifahren. 

Die Bären, die abwechselnd auf die Bühne kommen, beziehen sich anders auf Mitglieder der Gemeinschaft. Die Menschen packen Schlafmatten zusammen, teilen sich dieselben Container mit mehreren Rollen – Obdach, Guillotine, kämpfen gegeneinander, heilen dann ihre Wunden, lieben sich, indem sie ihren Körper in das Weiß und die Feuchtigkeit der Bühne verflechten einweben. Von hinten spukt der Wald. Er lauert uns von drinnen auf. Die Bären wiederum werden gezwungen zu tanzen, während die Geige erklingt. Sie bieten übrigens auch Massagen vor ihrem Angriff an. 

Ein sehr natürlicher Rollentransfer. Man kann nicht herausfinden, was wild ist und was nicht – ein breites Spektrum an Instinkten. Wenn der primäre Instinkt unterdrückt wird, erscheint der Mensch umso wilder, onomatopoetischer, durch Gerüche und Blut eingeschränkt. Welches ist das Gedächtnis eines Schreis? Die Körperlichkeit der Instinkte geht weit über den Versuch des Publikums hinaus, einen konkreten Gedanken zu verfassen. Wir werden im Dunkeln gelassen, auf dem Boden liegend, atemlos. Die Bären in uns und in von der Bühne ziehen sich zurück, aber der Wald besteht nur noch aus Stümpfen, die keinen Schatten spenden. Sowohl der Bär als auch der Mensch brauchen einen schützenden Schatten, damit sie sich in der Wildnis entspannen können. 

Die Fieberhaftigkeit der Spuren bleibt als Testament erhalten. Bis zum ersten Regen und der Neuorientierung der Straße, die sie bedecken wird. Aber sie sind und bleiben da, unter dem Abdruck, und vertiefen sich so immer mehr in das verletzliche Innere.

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„Theaterchronik @ Eurothalia“ ist ein von Daniela Șilindean gemeinsam mit dem Team des Deutschen Staatstheaters Temeswar konzipiertes Programm im Rahmen des Europäischen Theaterfestivals Eurothalia 2023, das vom 20. bis 30. September 2023 stattgefunden hat und durch das Nationale Kulturprogramm Temeswar - Kulturhauptstadt Europas 2023 gefördert wurde.