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Deutsches Staatstheater Temeswar

Wer sind wir?

2. Oktober 2023

Chronik von Elena Jebelean


Das fragen wir uns auch. Sind wir diejenigen, die mit den vier Schauspielern aus 37 Zündhölzer oder das gestohlene Leben – von Zdrava Kamenova und Gergana Dimitrova, Regie Bernhard M. Eusterschulte, produziert von TARTproduktion (DE), 36 Monkeys (BG) & FITZ Stuttgart, TNL Luxemburg –, in Szene 2 und am Ende der Vorstellung den schwer einzuordnenden griechischen – antiken Volkstanz des Balkans (einem Gebiet ewiger Konflikte) befreiend tanzen, wie in Zorba der Grieche von Nikos Kazantsakis? Ein Tanz von Leben und Tod, ein kathartischer, reinigender Tanz, der uns von Frustrationen befreit und uns die Kraft gibt, die Katastrophen unseres eigenen Schicksals zu überwinden? Oder ein ekstatischer, ritueller, bacchischer Tanz, der uns durch das Vergessen heilt und unsere Perspektive auf die eigene Bedeutung ändert? Tanzen auch wir? Oder schauen wir nur zu, wie im Theater? Am Anfang tanzen wir mit bei der Party, während am Ende die Musik wie nutzlos, eitel klingt. Denn dem Tod nahe zu leben klingt kirchlich – vanitas vanitatum. Das Leiden ist natürlich schrecklich, aber wir scheinen es als noch schrecklicher wahrzunehmen, wenn es sinnlos ist. Elenas Leben (Sonnenschein) ist eine Reihe von Leiden. Nur die Mythologie kann sie noch retten. Sie wird gefragt, ob sie gläubig ist. Ja, sie ist gläubig. Aber sie glaubt nicht an einen Gott, der den Sündern vergibt, egal, wie schrecklich ihre Taten auch sein mögen, vorausgesetzt, sie tun Buße. Die alten Götter, denen wir dienen, ohne es zumindest zu wissen, sind ihr nahe, sie unterstützen sie in ihrem Leben, das zu einem orphischen Initiationsweg wird. Sie initiiert sich in den Tod, kümmert sich um die Sterbenden, und die tägliche Betrachtung eines bestimmten Flusses, der in einem bestimmten Gemälde dargestellt wird, führt sie zu Offenbarungen, die sich immer tieferen Enttäuschungen überlagern.




„Wer sind Sie?" ist die Frage, mit der die Aufführung beginnt, die Frage des Marionettencharakters, die so gut auf die Abhängigkeit eines Menschen hindeutet, der nicht mehr für sich selbst sorgen kann, der gezwungen ist, die Tatsache zu ertragen, dass er von einem Fremden, von einer Pflegerin, die von weit her aus Bulgarien kommt, betreut (nicht manipuliert, wie seine Tochter befürchtet) wird, nachdem er bereits aus seinen Launen alle vorherigen Pflegerinnen in die Flucht getrieben hatte. Aber seine Tochter, obwohl sie vorsichtig bleibt, ist mit der neuen Variante zufrieden, weil die bulgarischen Frauen, die dies tun, drei große bequeme Eigenschaften aufweisen, zumindest aus der Perspektive der vermittelnden Agentur Lebendig und unversehrt, die solche Dienstleistungen anbietet. Sie kochen alle möglichen leckeren, traditionellen Gerichte; sie singen immer während der Arbeit; sie sind billig, sie arbeiten fünf Monate hintereinander, nicht nur zwei, wie andere, noch fragen sie jemals nach dem freien Tag. Dies ist Elena aus der Perspektive des Vermittlers, aus der Perspektive des alten Herrn Zünder und dessen Tochter und sogar aus der Perspektive des Papageis im Haus. Eine osteuropäische Sau. Wie oft hatte der Papagei diesen Beinamen gehört, den er die ganze Zeit wiederholte? Für sie stellt sie genau das dar.




Aber was bedeutet es für ihre Familie, die in Bulgarien geblieben ist, dass diese Frau, die im Ausland arbeitet, sich um den siebzehnten Kranken kümmert? Das ist ihre Einkommensquelle, jemand, die ihnen das notwendige Geld schickt – ihre Tochter, Kalina (die Schöne und Gute), wird von ihren Großeltern großgezogen. Elenas Mutter wirft ihr vor, ohne sich zu fragen, von welchem Geld sie gelebt hätte, wenn Elena zu Hause geblieben wäre, dass sie nicht zu Hause geblieben ist, um sich um ihren eigenen kranken Vater zu kümmern. Sie weist darauf hin, dass ihre Tochter von ihren Großeltern besser erzogen wurde als von ihrer eigenen Mutter. Das Mädchen träumt von ihr (oder will sie einfach nur verletzen, mit dem Zynismus, der manchmal spezifisch für die Jugend ist, inmitten des Gefühls der Verlassenheit, das so lange ausgehalten wurde) und parodiert Rotkäppchen: „Mutter, warum hast du so eine große Nase?/ – Damit ich den Schmutz im Haus besser absaugen kann, ohne den Staubsauger einzuschalten./ – Mutter, warum sind deine Hände so lang?/ – Damit ich auf den oberen Regalen besser Staub wischen kann./ – Mutter, warum sind deine Ohren so groß?/ – Damit ich hören kann, wenn ich angerufen werde, weil ich 24 Stunden am Tag erreichbar sein muss./ – Siehst du, du schaust gar nicht mehr wie ein Mensch aus...“ Die Tochter erklärt sie in der Schule für tot, das ist ihr lieber, als zu erklären, wo und was sie arbeitet. Sie teilt ihr sogar über die Großmutter mit, dass sie zu Weihnachten nicht nach Hause kommen solle, da sei nicht mehr genug Platz für sie, nur das Geld, das sie schickt, sei notwendig. Dann wird aufgelegt. Und sie fühlt, dass sie immer weiter weg ist, keine Seele auf der Suche nach dem Weg ins Jenseits, sondern eine Leiche, die keine Ruhe mehr finden kann.


Sie wird angeklagt, 5 Euro vom Geld des alten Mannes für die Euthanasie in der Schweiz gestohlen zu haben, eigentlich Geld, das sie beim Abstauben der Bibliothek gefunden hatte. Sie wird immer beleidigt und misstrauisch angesehen, es wird ihr vorgeworfen, dass sie nicht genug tun würde, dass sie es nicht gut und rechtzeitig machen würde, und dabei hatte die Frau keine Zeit, ein bisschen auszuruhen, nicht einmal um eine Zigarette zu rauchen. Der schreckliche Vorfall, den sie verursacht und der ihre Entlassung am Morgen nach dem letzten Telefongespräch mit ihrer Tochter zur Folge hat, ist, dass sie ein Drittel des Frühstücksbreis des alten Mannes auf das 350.000-Euro-Gemälde im Wohnzimmer, dem Fluss des Hades, geschleudert hat. Aber welcher Fluss ist es denn, hatte sie sich im Kontrapunkt während der gesamten Aufführung als gute Kennerin der griechischen Mythologie gewundert. Vielleicht Acheron, der Fluss des Schmerzes und des Leidens? Vielleicht Lethe, der Fluss des Vergessens? Oder Kokytos, der Trauernde, auf dem sich Charon mit seinem Boot nähert? Oder Styx, der Fluss des Hasses, der Fluss, der neunmal das Königreich umgibt, über das der grausame Hades herrscht? Lehrt uns der Mythos nicht, wie wir leben sollen?




Die Zündhölzer sind wie Tschechows Revolver. Sie wurden zu Beginn der Aufführung vom Alten fallen und dort gelassen, Elena hebt sie letztendlich auf. Das 37. Zündholz wird am Ende als Säuberung verwendet. Sie fragte sich immerfort, welcher Fluss wohl auf dem Gemälde im Wohnzimmer dargestellt sei, der ganz wie der schwarze Styx aussah, in den Thetis Achilles getaucht hatte, um unverwundbar zu sein. Jetzt war sie selber abgeschirmt gegen die Menschheit und entschied, dass es nach so viel Leid Zeit wurde für den Fluss aus Feuer und kochendem Blut, Pyriflegeton, um die Hölle ihrer eigenen Erfahrung zu markieren. Wie in einem Ritual fordert sie diesen Fluss heraus und verschwindet im Nichts, in Richtung der Ebene von Asphodel, die sie nicht nur beschreibt, sondern die auch szenisch durch das Gefäß mit den weißen Tulpen dargestellt wird, der über den ersten Zuschauerreihen hängt. Ihr folgen, kalziniert, die Körper der drei – des alten Mannes, seiner Tochter und des Vermittlers der Agentur.




Die Momente des Spiels und der Zärtlichkeit sind einzigartig. Wie ein Baby, das alle Gegenstände herumwirft, um sie wiederzubekommen, nur damit es sie erneut wegwerfen kann, die Schwerkraft prüfend, wirft der alte Mann eine Rolle Papier und Elena gibt sie ihm immer zurück, sie haben sogar beide Spaß an diesem Spiel. Sie streichelt ihn sanft am Rücken und er erinnerte sich an das einzige Wesen, von dem er sich jemals geliebt gefühlt hatte, an einen Hund, den er ebenfalls auf dem Rücken streichelte. Wie gerne würde er jetzt einen Hund am Rücken streicheln.... Der Teufelskreis der mangelnden Zuneigung gebärt Monster.




Wer sind wir? Wir sind würdige Menschen, die sich selbst respektieren, indem sie die anderen respektieren. Wir sind Menschen, die fähig sind, zu bewundern und die Verdienste anderer anzuerkennen. Wir beuten nicht aus, wir profitieren nicht. Wir beuten die anderen nicht aus, wir verachten sie nicht, indem wir sie benutzen. Wir teilen die Welt nicht in Reiche und Arme, wir verspotten diejenigen nicht, die uns helfen, wir bringen nicht die Hölle auf Erden. Das mindestens 37 Minuten lang, während wir das Theater verlassen. Und nicht um der Asphodel-Felder willen, auch nicht in der Hoffnung, uns des Elysiums zu erfreuen, und auch nicht aus Angst, im Tartarus gequält zu werden. Sondern deswegen, weil wir während der Vorstellung Wasser aus dem Fluss Mnemosyne, der hier nicht erwähnt worden ist, Lethes Gegenstück, getrunken haben. Wir leben und sterben im Erinnern, nicht im Vergessen.


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„Theaterchronik @ Eurothalia“ ist ein von Daniela Șilindean gemeinsam mit dem Team des Deutschen Staatstheaters Temeswar konzipiertes Programm im Rahmen des Europäischen Theaterfestivals Eurothalia 2023, das vom 20. bis 30. September 2023 stattgefunden hat und durch das Nationale Kulturprogramm Temeswar - Kulturhauptstadt Europas 2023 gefördert wurde.

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